Ein lang vergessenes Kunstwerk aus Glandorf
Im November 2011 wurde sie frisch restauriert der Öffentlichkeit vorgestellt: Die Holzstatue der „Heiligen Agnes“. Vielen war diese Kostbarkeit aus der Glandorfer Kirche nicht bzw. nicht mehr bekannt. Lange fristete sie im Abstellraum des Glockenturms ein nahezu unbeachtetes Dasein, bis das Krippenteam um Bernd Philippskötter sich ihrer annahm und die Instandsetzung der Skulptur in Auftrag gab. Die polychrome Bemalung mit Goldeinfassung wurde von der Fa. Eichholz aus Bad Laer wieder zu neuem Glanz gebracht.
Wer hat die heilige Agnes erschaffen? An dieser Frage scheiden sich die Geister, so dass Kultour-Gut! Glandorf diese Frage durch den Kunsthistoriker Josef Herrmann im Jahre 2019 untersuchen ließ. Nachfahren des Glandorfer Bildhauers Josef Weber vertreten aufgrund mündlicher Überlieferung die Meinung, es sei ein geschenktes Werk ihres Vorfahren. Dies schließen sie auch aus Aussagen des Heimatforschers Dr. Bernhard Riese, der im ersten Band der „Glandorf Gestalten“ schreibt, dass die Figur dem früheren Pastor Köster geschenkt wurde. Von wem, blieb allerdings offen. Angeblich soll lt. mündlicher Überlieferung Pastor Köster bei Übergabe der Figur gesagt haben: „Da stehst Du nun mit deinem langen Hals, siehst aus wie Frau Heuger aus Westendorf“.
Mit lokaler Kirchen-Kunst Vertraute sehen hingegen in Ludwig Nolde, einem Osnabrücker Bildhauer des beginnenden 20 Jahrhunderts, den Erschaffer. Josef Herrmann, zuständig für die Kunstinventarisierung in den Kirchengemeinden des Bistums Osnabrück, kam im Februar 2019 eigens zu dem Zweck nach Glandorf, das Werk zu untersuchen. Nach seiner Expertise dürfte die hl. Agnes mit größter Wahrscheinlichkeit Ludwig Nolde zuzuschreiben sein. Ein erster und wichtiger Anhaltspunkt dafür liefert das Auftragsbuch Noldes, in dem die hl. Agnes als Auftrag aus Glandorf vermerkt ist. Leider aber fehlt als Nachweis eine Rechnung im Glandorfer Pfarrarchiv, das von Kultour-Gut! Glandorf daraufhin durchsucht wurde. Die hl. Agnes wurde von Nolde nicht signiert. Lt. Herrmanns spricht die fehlende Signatur aber nicht gegen dessen Urheberschaft, denn er signierte nur Werke, die in seiner Werkstatt ganz überwiegend durch ihn selbst bearbeitet worden waren. Werke seiner Schüler hingegen versah er nicht damit. Desweiteren weist die hl. Agnes eindeutige Stil-Merkmale Noldes auf, die er von italienischer Renaissance-Künstler übernahm und sich auch in anderen seiner Werke wiederfinden. So zum Beispiel der überdimensional lange Hals der Figur, wie aber auch übermäßig lange Extremitäten die auch die hl. Agnes mit ihren Fingern aufweist. Parallelen zu Parmigianinos „Madonna mit dem langen Hals“ (1534/35) sind hier lt. Herrmann unübersehbar. Ebenso lassen lt. Hermann die durch die Handwerkszeuge des Bildhauers hervorgerufenen äußeren Spuren im Holz auf eine Arbeit Noldes schließen. Er verzichtete darauf, die Oberflächen seienr Figuren glatt zu schleifen, wie es ansonsten üblich war. Auf weitere typische „Nolde-Merkmale“ der Gestaltung konnte Josef Herrmann hinweisen: Die ebenfalls überdimensional großen Augen, die Modellierung der Nase bis hin zur fliehenden Stirn sind Stilelemente Noldes, auch die Gestaltung der Kopfbedeckung und der Faltenwurf der Bekleidung lassen sich in dieser Form in anderen Werken Noldes wiederfinden. Natürlich konnte auch Josef Herrmann keine endgültige Garantie dafür geben, dass es sich um eine Werk Noldes handelt, allerdings lassen alle Umstände aus kunsthistorischer Sicht nach seiner Meinung keinen anderen Schluss zu.
Ludwig Nolde zählte schon in den 1930er Jahren zu den führenden Künstlern sakraler Kunst im Osnabrücker Land. Am 14. Dezember 1888 in Osnabrück geboren, absolvierte er seine Lehre von 1902 bis 1906 bei dem dort ansässigen Bildhauer Lukas Memken. Anschließend folgte eine fast zehnjährige Wanderschaft durch Westfalen, ins Rheinland, nach München, in die Schweiz sowie nach Italien. 1919 gründete Nolde eine eigene Werkstatt an der Dielingerstraße in Osnabrück und stellte seine Arbeiten in vielen Schaufenstern der Stadt aus. 1930 war Nolde bereits so etabliert, das er an der Rheiner Landstraße ein Wohnhaus mit einer großen Werkstatt und einem ständigen Ausstellungsraum errichten konnte.
Zeugnisse seines Schaffens finden sich an vielen Orten: in Osnabrück, Köln, Bremen, Münster, Hamburg, Oldenburg, Siegburg, Düren, um nur einige zu nennen, besonders aber in vielen Kirchen des Bistums Osnabrück. So auch in Glandorf, wo sich an der Kirchenkrippe zwei Hirten aus seiner Hand noch heute befinden. Diese wurden 1930 von Pastor Köster angeschafft, der eine ausgeprägte Leidenschaft für Kirchenkunst hatte. Ebenfalls in jenem Jahr, nur kurze Zeit vor der Ergänzung der Krippe, wurde die „Heilige Agnes von Rom“ in Auftrag gegeben. Deutlich ist ihre Haarpracht dargestellt, die ihr, laut Überlieferung, wie ein Schild Schutz vor ihren Peinigern bot. Darüber hinaus hält sie in ihren Händen die Märtyrerpalme und ein Lamm, als Symbol für die Art ihres Märtyrertodes.
Allerdings fand der künstlerische Anspruch Noldes nur wenig Anerkennung vor Ort. Sogar Bernhard Riese, der die Sammelleidenschaft Kösters noch selbst miterlebte, lässt eine deutliche Skepsis erkennen. So schreibt er im ersten Band der „Glandorfer Gestalten“: ‚Im Gotteshause liebte er (Köster) keine leeren Stellen. Von allen Wänden, aus allen Fenstern, ja sogar von der frei schwebenden Decke herunter sollten Bilder, Reliefs, Skulpturen und Wandgehänge mit Darstellungen aus der biblischen Geschichte und dem Leben Jesu die ländlichen Besucher zum Nachdenken zwingen. (…) Statuen von der hl. Agnes mit einem viel zu langen Hals und einem seltsamen Helm auf dem Kopf sowie ein „goldener“ hl. Aloysius wurden ihm geschenkt. Er nahm sie zwar als Lückenbüßer, war sich aber ihres künstlerischen Unwertes durchaus bewusst.’
Dieser Auffassung war wahrscheinlich auch der Nachfolger von Pastor Köster. In den 1940er Jahren reduzierte Pastor Bolte die Kunstwerke im Kirchenraum, wobei die „Heilige Agnes“ im Abstellraum landete. Wo allerdings der „Heilige Aloysius“ (ebenfalls Nolde) abblieb, ist bis heute nicht bekannt. Während der Kirchenrenovierung 1996 wurde die Skulptur der Agnes in einen Kleiderschrank in der Sakristei gestellt, aus dem sie Anfang 2011 wieder hervorgeholt wurde.
Für Kultour-Gut! Glandorf
Frank Niermann