Vor 150 Jahren, am 1. September 1871 wurde die Eisenbahnstrecke Münster – Osnabrück mit der heutigen Streckenführung über Lengerich eröffnet. Vermessen und zu Beginn auch favorisiert war aber eine andere Route, nämlich über Telgte, Glandorf und Iburg 1. Diese Eisenbahnstrecke wäre westlich von Glandorf nahe Schwege und von dort nach Iburg verlaufen2. Ein Bahnhof sollte in Schwege etwa auf Höhe der heutigen Kreuzung B51 / Hauptstraße gebaut werden3.
Trotz großer Unterstützung in der Bevölkerung entlang des gesamten Streckenverlaufs4, wurden diese Pläne nie realisiert. Wie konnte es dazu kommen, dass Glandorf von dieser wichtigen Infrastruktur abgeschnitten wurde?
Die Bahnstrecke Münster – Osnabrück wurde als Teilstück der Venlo – Hamburg Eisenbahn gebaut. Im Kaiserreich entwickelte sie sich zu einer der wichtigsten Verbindungen Deutschlands, denn sie ermöglichte eine direkte Verbindung vom sich damals entwickelnden Industriegebiet an Rhein und Ruhr zu den Seehäfen in Bremen und Hamburg5.
Im 19. Jahrhundert profitierte Glandorf zunächst von seiner zentralen Lage zwischen diesen Zentren: Es entwickelte sich zu einem Seilereizentrum, denn es wurden sowohl Seile im Bergbau, als auch Taue und Netze in den Werften an den Häfen benötigt6 . Vor der Eröffnung der direkten Eisenbahnstrecke verkehrten sogenannte Bremerwagen zwischen Nordsee und Ruhrgebiet7. Wichtig war hierfür ein (für damalige Verhältnisse) gut ausgebautes Straßennetz. Genau an einer solchen Verbindung lag Glandorf: Napoleon hatte 1811 den Bau einer großen Landstraße von Wesel über Münster, Glandorf, Iburg nach Osnabrück veranlasst, die 1830 fertiggestellt wurde8. Heute kennen wir diese Straße als B51. Hierdurch war Glandorf an eine wichtige wirtschaftliche Pulsader angeschlossen.
Die ersten Pläne, die Industriereviere an Rhein und Ruhr durch eine direkte Eisenbahnverbindung über Münster und Osnabrück an die Seehäfen in Bremen und Hamburg anzuschließen, gab es ab 18619 . Sie gehen auf den Münsteraner Gasfabrikanten Johann Anton Sabey zurück. Die geplante Bahnstrecke sollte von Venlo kommend den Rhein bei Mehrhoog kreuzen und über Coesfeld, Münster, Telgte, Iburg nach Osnabrück und von dort durch das Großherzogliche Oldenburgische Gebiet über Vechta nach Bremen und Hamburg führen10.
In Beckum plante ein dort gegründetes Komitee bereits eine Anschlussbahn, die von Soest über Beckum, Freckenhorst, Warendorf führen und in Glandorf etwa auf Höhe der Ortsgrenzen zu Iburg und Lienen auf die Strecke Münster – Osnabrück münden sollte11. Auf dieser Zubringertrasse hätte ein Bahnhof in Glandorf auf dem Timpen gelegen12. Die Familien Hanewinkel und Wibbelsmann kauften damals Grund auf dem Timpen, um den Bahnbau geschäftlich nutzen zu können. Wibbelsmann baute ein Gebäude, das als Bahnhof genutzt werden sollte und noch heute dort steht13.
Die Planung für den Streckenverlauf der Venlo – Hamburg Eisenbahn wurde aber von Anfang an durch politische Interessen behindert: Von Venlo bis zur Nordsee hätte die Strecke durch fünf Staaten geführt: die Niederlande, die Königreiche Preußen und Hannover, sowie die Stadtstaaten Bremen und Hamburg – und alle hatten ihre eigenen Interessen, die sie durchzusetzen versuchten.14
Aber nicht nur auf Staatsebene gab es unterschiedliche Vorstellungen zum Streckenverlauf: Es gingen viele Schreiben aus den einzelnen Ortschaften zwischen Münster und Osnabrück bei den Ministerien und Regierungen ein, um Einfluss zu nehmen auf die finale Streckenführung. Dies macht deutlich, wie hoch man deren Bedeutung für die Entwicklung der Region einschätzte15. So gab es bereits seit 1862 eine alternative Routenplanung der Verbindung Münster – Osnabrück über Lengerich16. In den folgenden Jahren wurde viel gerungen, welche Alternative realisiert werden sollte. Am intensivsten für die Führung durch den (heutigen) Osnabrücker Südkreis setzte sich wohl der Iburger Arzt Dr. med. Alfred Lamby ein. In seiner Schrift, die vermutlich an die Regierung in Hannover gerichtet17, schreibt er:
Zwischen Münster und Osnabrück […] ist die Bahnlinie noch nicht definitiv bestimmt.
Man hat hauptsächlich zwei Linien betont, die längere über Iburg und die kürzere über preußisch Lengerich. […]
Die hannoversche Regierung ist für die Linie Iburg, welche 3 8/10 Meilen lang von Osnabrück bis südlich von Glandorf auf hannoverschem und von da an über Telgte 2 8/10 Meilen lang auf preußischem Gebiete verläuft; die preußische Regierung ist für die Linie Lengerich, welche 4 Meilen lang, von Münster bis nördlich des Osninggebirges preußisches und nur 2 Meilen lang hannoversches Gebiet durchzieht.18
Obwohl Lamby zugestand, dass die Strecke über Lengerich kürzer und damit günstiger sei und sich die Georgsmarien-Hütte als wichtiger Industriefaktor besser über Lengerich hätte anbinden lassen, weil nur auf dieser Trassenführung ein Werksbahnhof in der Ebene möglich war19, hielt er die Strecke über Iburg in Summe die rentabelere. Bzgl. des Personenverkehrs stellt Lamby fest:
Der locale Personenverkehr von Osnabrück und Münster aus wird auf der Iburger Route wegen der vielen bedeutenderen Handelsbeziehungen weit beträchtlicher sein und mindestens 100,000 Personen mehr betragen, als auf der Lengericher Route.20
Auch bzgl. des Frachtaufkommens hielt Lamby die Strecke über Iburg für wirtschaftlicher und schrieb:
Glandorf, das wir hier ebenfalls erwähnen, weil seine Ziffer die höchste Durchschnittszahl (auf 1000 Einwohner 50,000 Ctr.) erreicht, führt bedeutend aus an landwirtschaftlichen Producten und Schweinen namentlich Heu, Holz und Leinen, ist wohlhabend und betriebsam, besitzt zwei große Brennereien, eine Ziegelei, eine Dampf-Säge und Mahlmühle und eine bedeutende Seilerei. Es importiert eine große Menge Kohle.21
Doch Lambys Bemühungen waren vergeblich: Auf preußischer Seite hatte man sich auf die Streckenführung durch das eigene Staatsgebiet und damit über Lengerich festgelegt22 (und konnte seine Interessen in Hannover durchsetzen). Am 12. April 1866 ratifizierten Preußen und Hannover einen Staatsvertrag, der die heute bekannte Verbindung festschrieb23. Auch wenn es im Anschluss noch Versuche mehrerer Orte gab, Einfluss auf diese Entscheidung zu nehmen24, so wird den Verantwortlichen im Osnabrücker Raum nach der Niederlage im deutschen Krieg im Sommer 1866 bewusst gewesen sein, dass Preußen von seiner Entscheidung nicht abrücken würde.
Glandorf wurde durch diese Entscheidung wirtschaftlich um hundert Jahre zurückgeworfen25: Die Transportaufträge der Bremerwagen entfielen26, Waren wurde nun nicht mehr über Glandorf sondern an Glandorf vorbei transportiert. Die Postverbindung über die Posthalterei Kellinghausen wurde aufgehoben; erst 1904 sollte Glandorf wieder ein Postamt erhalten27. Zahlen mussten die Glandorfer für die neue Bahnverbindung aber trotzdem: Ein Teil der Kosten wurde nach Kopfzahl der umliegenden Bezirke und Gemeinden, zu denen Glandorf gehörte, verteilt28.
Wie würde Glandorf heute aussehen, wenn die ursprünglichen Pläne realisiert worden wären? Mit zwei Bahnhöfen in Schwege und auf dem Timpen, regelmäßigem Personenverkehr nach Münster, Osnabrück, Warendorf und darüber hinaus? Mit Fernverkehrs- und Güterzügen, die durch den Ort fahren? Wie man auch dazu stehen mag, dass die Gleise nicht in Glandorf liegen – diese Entscheidung hat die Ortsentwicklung nachhaltig beeinflusst.
Wer noch mehr über dieses Kapitel der Glandorfer Geschichte wissen möchte, kann sich auf die nächste Ausgabe der Glandorf Edition freuen.
Quellen:
- Kisker, Heinz: Vom Bau der Eisenbahnstrecke Münster – Osnabrück als Teil der Eisenbahn (Paris) Venlo – Hamburg, Books on Demand GmbH, 2009
- Glandorf Edition, Heimat- und Kulturverein Glandorf e.V. (Hrsg.), Band 2, Krützkamp Druck, 2019
- Glandorf Edition, Heimat- und Kulturverein Glandorf e.V. (Hrsg.) Band 3, Krützkamp Druck, 2020
- Brüggemann, Maria u. Pusch, Klaus: 750 Jahre Schwege, Verlag Krimphoff, Sassenberg 1985
- Lamby, Alfred: Soll die Strecke Münster-Osnabrück der projectierten Paris-Hamburger Eisenbahn über Iburg oder Lengerich führen? Niedersächsiches Landesarchiv Osnabrück, Dep. 103 IX zitiert aus: Abschrift des Gutachtens von Dieter Heimsath, Archiv Heimat- und Kulturverein Glandorf.e.V.
- Kisker, S. 48
- Glandorf Edition, Ausgabe 2, S. 29
- Brüggemann/Pusch, S. 141
- Vgl. Kisker S.74ff, S.88ff, S.103
- Kisker, S. 9
- Glandorf Edition, Ausgabe 3, S. 68
- Glandorf Edition, Ausgabe 3, S. 70
- Glandorf Edition, Ausgabe 3, S. 71
- Kisker, S. 43
- Kisker, S. 48
- Kisker, S. 68
- Glandorf Edition, Ausgabe 2, S. 30
- Ebd.
- Kisker, S. 48
- Kisker, S. 105
- Kisker, S. 52
- Kisker, S. 89
- Lamby, S. 3
- Lamby, S. 16f.
- Lamby, S. 12
- Lamby, S. 13
- Kisker, S. 88
- Kisker, S. 95f
- Vgl. Kisker, S. 100ff
- Glandorf Edition, Ausgabe 3, S. 72
- Ebd.
- Glandorf Edition, Ausgabe 2, S. 31
- Ebd.